Was Schreiben mit Konstruktivismus zu tun hat
Wenn eine Figur sagt: „Ich habe gesehen, wie er sie umarmt hat“, wissen wir sofort: Das ist keine Tatsache. Es ist eine Wahrnehmung – gefärbt von Emotion, Erinnerung und innerer Geschichte. In diesem kleinen Spalt zwischen Beobachtung und Bedeutung entsteht das, was psychologische Spannung so unwiderstehlich macht. Genau dort liegt der Kern des Konstruktivismus – und damit auch die DNA eines guten Psychothrillers.
Die Wahrheit ist ein fragiles Konstrukt
Psychothriller beginnen selten mit einer Leiche. Sie beginnen mit einem Zweifel. Etwas stimmt nicht – aber niemand kann es benennen. Diese Unsicherheit ist der Motor der Spannung. Denn Konstruktivismus besagt: Es gibt keine objektive Wirklichkeit, die sich neutral abbilden ließe. Menschen konstruieren ihre Welt aus Bruchstücken, gefiltert durch Biografie, Emotion und Erwartung. Für das Schreiben heißt das: Ein Text zeigt nie „wie es war“, sondern immer „wie es erlebt wurde“. Und genau diese Verschiebung erzeugt Tiefe, Atmosphäre und Gänsehaut.
1. Konstruktivismus – kurz und nützlich
Der Begriff klingt theoretisch, ist aber erstaunlich praktisch. Ursprünglich stammt er aus der Erkenntnistheorie (u. a. von Jean Piaget und Ernst von Glasersfeld) und wurde später in Psychologie und Pädagogik weiterentwickelt. Im Kern sagt er: Wahrnehmung ist keine Abbildung, sondern eine aktive Konstruktion. Wir wählen aus, interpretieren und ergänzen – meist unbewusst.
Zwei Figuren können denselben Moment erleben und sich später völlig unterschiedlich erinnern. Die eine spürt Bedrohung, die andere Nähe. Die Psychologie nennt das selektive Wahrnehmung; Erzählen nennt es Perspektive. Wer konstruktivistisch schreibt, zeigt nicht die Welt, sondern die Art, wie jemand sie sieht – mit all ihren blinden Flecken, Übertreibungen und Projektionen.
2. Warum das Fundament psychologischer Spannung konstruktivistisch ist
Spannung entsteht, wenn Gewissheit bröckelt. Leser:innen folgen einer Figur, die fest überzeugt ist – bis Risse im Bild auftreten. War die Stimme im Flur real? Stand das Fenster wirklich offen? Hat es dieses Gespräch gegeben oder nur im Kopf der Figur? Konstruktivistisches Erzählen nutzt diese Unsicherheit nicht als Trick, sondern als Realität: Subjektive Wahrnehmung kann kippen, sich verändern oder kollabieren. Und genau dort entsteht das Unbehagen, das den Puls steigen lässt.
Ein Psychothriller muss deshalb keine Verfolgungsjagd zeigen. Es reicht, wenn der Leser spürt: Etwas stimmt nicht – aber ich weiß nicht, was. Die Spannung entsteht im Kopf, nicht in der Handlung. Und das ist vielleicht die ehrlichste Form von Angst.
3. Schreiben heißt: Realität gestalten
Autor:innen sind keine Chronist:innen eines fixen Geschehens, sondern Architekt:innen von Wahrnehmung. Sie wählen Ausschnitt, Ton, Sensorik, Gedächtnislücken. Ein einziger Satz kann die Deutung kippen: „Sie lächelte – aber ihre Hände blieben still.“ Dieser kleine Widerspruch zwingt Leser:innen, neu zu denken. Wahrheit entsteht im Text als Wirkungskette aus Signalen, nicht als Sammlung von Fakten.
Wer konstruktivistisch schreibt, interessiert sich nicht für das, was „passiert“, sondern für das, was „verstanden“ wird. Jeder Dialog, jede Beschreibung ist eine Einladung, mitzudenken – und gleichzeitig ein Spiegel für die eigene Wahrnehmung. Denn was Leser:innen sehen, ist nie neutral; sie konstruieren mit.
4. Figurenpsychologie: Jede hat recht – in ihrer Welt
Konstruktivismus hilft, Figuren glaubwürdig zu gestalten. Niemand ist verrückt, niemand grundlos böse. Jede Figur handelt stimmig innerhalb ihrer eigenen Logik. Die Protagonistin, die nachts Schatten sieht, erlebt sie wirklich – in ihrer psychischen Realität. Der Mann, der überzeugt ist, seine Frau lügt, fühlt diese Gewissheit körperlich. Der Täter, der glaubt, eine gerechte Ordnung wiederherzustellen, folgt einer inneren Notwendigkeit.
Wenn du konstruktivistisch schreibst, hörst du auf, deine Figuren zu bewerten. Du beginnst, sie zu verstehen. Das Ergebnis ist Tiefe – und Geschichten, die sich wahr anfühlen, selbst wenn sie erfunden sind.
5. Beobachten, wie beobachtet wird
Im Konstruktivismus spricht man vom „Beobachter zweiter Ordnung“: Man beobachtet nicht nur, was geschieht, sondern wie jemand etwas sieht. Genau das tust du beim Schreiben. Du konstruierst nicht einfach die Welt deiner Figur – du konstruierst, wie sie Welt konstruiert. Und damit öffnest du die Tür zu psychologischer Spannung.
Leser:innen spüren sofort, wenn Wahrnehmung brüchig wird. Sie merken, dass ein Satz zu glatt ist, ein Blick zu starr, ein Detail zu bewusst erwähnt. Diese feinen Unstimmigkeiten erzeugen das Gefühl, dass etwas nicht stimmt – lange bevor die Figur es begreift. Und das ist die Kunst: Spannung entsteht aus Wahrnehmungsdifferenz, nicht aus Lärm.
6. Erinnerung: die unzuverlässigste Zeugin
Erinnerung ist kein Speicher, sondern ein kreativer Prozess. Jedes Abrufen verändert sie. Wir rekonstruieren, was war, und erfinden dabei unbewusst neu. Für das Schreiben bedeutet das: Eine Figur, die sich erinnert, erzählt nicht die Vergangenheit – sie schreibt sie um. Mit jeder Wiederholung glättet sie Brüche, blendet Schmerz aus oder dichtet Sinn hinzu.
Wenn du das nutzt, entsteht Spannung ganz von allein. Ein Foto, das nicht existiert. Ein Gespräch, das nie stattfand. Eine Erinnerung, die sich mit jeder Rückblende verändert. Nicht als Täuschung, sondern als realistische Darstellung menschlicher Erinnerung. Das ist Konstruktivismus in erzählerischer Form – und ein Werkzeug, das Leser:innen in den Zweifel zieht.
7. Leser:innen konstruieren mit
Ein konstruktivistisch erzählter Text ist nie abgeschlossen. Jede Leserin, jeder Leser erschafft eine eigene Version der Geschichte. Zwischen den Zeilen füllen sie Lücken, deuten Gesten, interpretieren Schweigen. Sie entscheiden, wem sie glauben, was sie verdrängen, woran sie zweifeln. Das ist kein Nebeneffekt – es ist Teil des Systems.
Als Autor:in kannst du das bewusst steuern. Erkläre weniger. Zeige mehr. Gib kleine Hinweise, aber keine Auflösung. Lass Raum für Deutung, und du wirst merken: Die Geschichte lebt weiter – in den Köpfen derer, die sie lesen.
8. Praxis: konstruktivistisch erzählen – ohne Effekthascherei
Wie lässt sich das konkret anwenden? Ein Beispiel: Eine Frau sitzt nachts im Auto vor einem Haus. Sie sagt sich: „Nur kurz nachsehen.“ In Wahrheit sucht sie Bestätigung für das, was sie längst glaubt. Der Leser sieht nur, was sie sieht – das Licht hinter dem Vorhang, den Schatten an der Wand. Ob da wirklich jemand steht, bleibt offen. Das ist konstruktivistisches Erzählen: Spannung entsteht durch Interpretation, nicht durch Aktion.
- Perspektive präzisieren: Aus wessen Linse wird erzählt? Welche Erfahrungen färben sie?
- Sensorik selektiv einsetzen: Ein Detail – Geruch, Rhythmus, Geräusch – kann eine Szene kippen.
- Lücken gestalten: Auslassungen sind keine Schwäche, sondern Einladung zum Mitdenken.
- Erinnerung als Dynamik: Wiederkehrende Erinnerungen dürfen sich leicht verändern – erkennbar, aber subtil.
- Konflikte aus Innenlogik: Handlungen sollen in der subjektiven Wahrheit der Figur Sinn ergeben.
- Sprache als Spur: Satzrhythmus, Wortwahl, Syntax können den inneren Zustand spiegeln.
Konstruktivistisch zu schreiben bedeutet also, Vertrauen in das Unausgesprochene zu haben. Spannung entsteht im Raum zwischen Figur, Text und Leser:in.
9. Innenwelten statt äußerer Krach
Psychologische Spannung braucht keine Explosion. Sie entsteht in den Zwischenräumen – dort, wo ein Blick zu lange hält, wo eine Antwort einen Takt zu spät kommt, wo eine Geste nicht zum Gesagten passt. Konstruktivismus schärft den Blick für diese feinen Abweichungen. Er zeigt, dass Bedrohung oft leise ist und Wahrheit nie stabil.
Wenn du beginnst, so zu schreiben, verlagert sich der Fokus: weg von der Frage „Was passiert?“ hin zu „Wie fühlt es sich an?“. Und genau das ist der Unterschied zwischen einem Krimi und einem Psychothriller.
10. Selbstkonstruktion: was Texte über Autor:innen verraten
Auch beim Schreiben selbst konstruieren wir. Themen, die wiederkehren, sind wie Leuchtspuren. Motive, die uns anziehen, verraten, was uns selbst beschäftigt. Ein konstruktivistischer Blick akzeptiert das als Teil des Handwerks. Texte werden zu Spiegeln – nicht als Selbstbespiegelung, sondern als Methode, Wahrnehmung zu verstehen.
Seit ich verstanden habe, dass jede Figur ihre eigene Wahrheit hat, schreibe ich anders. Ich bewerte weniger, beobachte mehr. Ich vertraue darauf, dass Ambivalenz stärker wirkt als Gewissheit. Vielleicht ist genau das die Essenz des Schreibens: nicht festzuhalten, was wirklich ist – sondern zu zeigen, wie fragil unsere Wahrheiten sind.
Fazit: Konstruktivismus ist die DNA psychologischer Spannung
Konstruktivismus ist kein theoretisches Konzept, sondern eine Haltung: Realität wird erlebt, nicht besessen. Wer so schreibt, zeigt Perspektiven statt Parolen, Zweifel statt Dogmen, innere Logik statt Etiketten. Psychologische Spannung entsteht genau da, wo jede Figur ihre Welt verteidigt – und Leser:innen spüren, dass auch ihre eigene Wahrnehmung nicht unfehlbar ist.
Manchmal reicht ein einziger Satz, um alles kippen zu lassen: „Ich erinnere mich anders.“
Mehr zu meinem Debüt-Psychothriller gibt es hier: nora-thriller.de
Die Wahrheit liegt zwischen den Zeilen.
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+ Alle großen Meilensteine zu ‚Nora‘.
Yvonne Fothe
Autorin
Psychothriller/Psychosuspense
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Foto von Elīna Arāja: https://www.pexels.com/de-de/foto/frauengesicht-3319333/